Lübeck und das Wissen seiner Stadtteile
Das Archiv des Gemeinnützigen Vereins: Schlutups Geschichte und Natur
Wenn wir nach Schlutup fahren, mischt sich in die Vorfreude auf Begegnungen mit vielen munteren, agilen Bewohnern, die diesen kleinen Stadtteil in wenigen Jahren zu einem geschätzten Anziehungspunkt gemacht haben, der eine oder andere leise Seufzer.
Vorbei an den ehemaligen Werkshallen der Kriegsfabriken, wo Tausende Zwangsarbeiter Munition für den Krieg des Deutschen Reichs gegen Europa herstellen mussten, gelangen wir auf heute idyllischen Pfaden an die Schlutuper Wiek. Hoch auf dem Steilufer thronen einige „Villen“ der Fischbarone, letztlich bescheidene Bauten, die daran erinnern, dass noch vor achtzig, vor fünfzig Jahren, die Ostsee abgefischt wurde in dem Glauben, der Reichtum der Meere sei unerschöpflich. Das Fischen, das Marinieren, die Fischräucherei und das Verpacken des Fisches in Dosen gab vielen Menschen für ein halbes Jahrhundert Arbeit. Und die bilderreich verpackten Metallschachteln bereiteten unschuldigen Genuss und Freude – Schlutups Erinnerungen stimmen nachdenklich.
Seit der Grenzöffnung 1989 blüht auch in Schlutup neues Leben aus Ruinen. Aber nicht davon soll hier berichtet werden, sondern von einer Einrichtung, deren Ziel es ist, Erinnerungen zu sammeln, zu bewahren und zu dokumentieren. Für das Auge seiner Besucher unsichtbar, befindet sich mit Blick auf den Papierhafen in der Schlutuper Fabrikstraße eine Institution, die einen Wissensschatz birgt, das Archiv des Gemeinnützigen Vereins. Wie es sich gehört, kann das Archiv die inzwischen 115-jährige Geschichte des Vereins vom Gründungsjahr bis zum jüngsten Jahresbericht lückenlos und anschaulich belegen:
Aber es ist auch eine Einrichtung, der persönliche und familiäre Erinnerungsstücke übergeben werden, und es wird dort systematisch Wissen gesammelt. Ernst-Otto Reimann betreut das Archiv seit 2011. Der Laboringenieur, der fast dreißig Jahre an der Technischen Hochschule unserer Stadt tätig war, ist Herr über einen digital gut erschlossenen Archivbestand. Dessen Herzstück sind mehr als 5.000 Fotografien, ordentlich verzeichnet und inhaltlich erschlossen nach Sachen, Personen, Ereignissen und den Namen der Fotografen. Diese Sammlung ist eine der Lebensleistungen von Uve Assmann und Jürgen Wiechmann. Beide, aber auch Horst P. Schwanke, Roland Heimann und Carl Westphal haben für ihre Publikationen Fotografien gesammelt, Uve Assmann hat sie mustergültig inventarisiert.
Die Vorgänger von Ernst-Otto Reimann interessierten sich für geschichtliche Ereignisse, für gewerbliche und private Bauten und um Schlutups wirtschaftlichen Besonderheiten. Ernst-Otto, wie er sich gerne nennen hört, ist dabei, eine weniger beachtete Seite des Stadtteils zu erforschen. Dem Naturraum, genauer gesagt, der Pflanzenwelt am Landgraben, in der Schwarzen Heide, am Schwarzmühlensee und am Palinger Weg gehört seine Aufmerksamkeit. Reimann, der seit 1982 in Schlutup wohnt, kam 1944 in Dithmarschen zur Welt und entdeckte schon früh auf dem langen Schulweg, vorbei an Prielen, Knicks und Erdwällen seine Neugier für Botanisches.
Nicht jeder hat ein Ohr für die Sprache der wild wachsenden Pflanzen, Kräuter und Farne, Reimanns Gehör aber wurde geschärft bei der täglichen Fahrradtour von Schlutup zur Fachhochschule, aufaddiert über die Jahre mehr als 80.000 Kilometer, vorbei an Mooren, dem Landgraben, durchs Lauerholz, der Palinger Heide – genau genommen eine zweimalige Umrundung unserer Erdkugel. Zusammen mit Günter Steffen bietet Ernst-Otto Spaziergänge und Führungen an.
G. Steffen lenkt die Sinne auf Mühlen, Wohnhäuser, Fabrikbauten, Franzosenzeit und Zeit der innerdeutschen Grenze, Ernst Otto Reimann kennt die geologischen Formationen und erdgeschichtlichen Bewegungen unter den Schuhen der Spaziergänger. Und er bringt links und rechts an den Wegrändern, wo der dösende Wanderer, Reiter oder Jogger wucherndes Unkraut wahrnimmt, Scharbockskraut, den gemeinen Goldstern und die rote Taubnessel zum Sprechen. Kenntnisse über Heilkräfte, einprägsame Legenden und das Wissen um Naturveränderungen durch Industrialisierung, sauren Regen und den Klimawandel mischen sich in seine knapp gehaltenen Vorträge. Dabei kann, wer mit den beiden Freunden um 14 Uhr startet, sicher sein, auf die Minute genau nach anderthalb Stunden am verabredeten Schlusspunkt anzukommen.
Wer heute Schlutup besucht, dem begegnen nicht nur die Relikte aus den Tagen von Fischräucherei, Zwangsarbeit und Selbstschussanlagen, wer sich informiert, kann ab April die versteckten und doch so naheliegenden Naturschönheiten Schlutups entdecken. Die Spaziergänge sind von Einheimischen gut besucht, eine Voranmeldung empfiehlt sich also. Und wer einmal mitgegangen ist, der wird besser verstehen, warum Schlutuper beim Reden über ihren Stadtteil einen unübersehbaren feinen Glanz in ihrem Augenausdruck ausstrahlen.
> zum Originalartikel der Lübeckische Blätter